Anreise Teil 2
So etwa 4:30 werde ich durch Unruhe und laute Stimmen auf dem Gang wach. Und dann klopft es auch gleich laut an unsere Tür und das Frühstück wird geliefert. Der ganzen Aufregung im Wagen entnehme ich, dass der Zug viel früher als geplant in Hamburg-Harburg ankommen wird und alle Fahrgäste nach Hamburg dort aussteigen müssen und sich irgendwie selbst zum Hauptbahnhof bzw. Altona durchschlagen müssen. Die Fahrplanauskunft der Schweizer Bahn weiß davon nichts. Aber die Fahrplanauskunft der Deutschen Bahn zeigt deutlich, dass schon seit über einer Woche dieser Zug, der eigentlich unterwegs geteilt werden sollte (ein Teil nach Hamburg und ein Teil nach Berlin), aufgrund des Unfalls zwischen Hannover und Berlin nicht geteilt wird sondern früher in Hamburg Harburg ankommt und von dort direkt nach Berlin fährt. Leider hatte ich nur in der Schweizer Fahrplanauskunft nachgesehen und nicht noch zeitnah in der Deutschen. Somit hat mich diese Fahrplanänderung kalt erwischt und ich mache mich noch ziemlich schlaftrunken über mein Frühstück her.
Ich vernichte den Kaffee und ein Brötchen mit Marmelade. Das zweite Brötchen belege ich mit der Salami und packe es ein. Den Orangensaft trinke ich dann auch noch.
Und dann sind wir in Hamburg-Harburg und müssen den Schlafwagen etwa 100 Minuten vor der geplanten Zeit verlassen. Ich bin immer noch hundemüde und mag gar nicht denken. Zum Glück kommt nach der Abfahrt des Nachtzugs ziemlich schnell ein Regionalzug, der zum Hauptbahnhof fährt. Den nehme ich einfach und mache mir, wie die meisten der Mitreisenden, gar keine Gedanken darüber, ob ich eine neue Fahrkarte brauchen würde.
Am Hauptbahnhof angekommen, versuche ich mich erst einmal zu orientieren und fahre die nächstbeste Rolltreppe vom Bahnsteig in die Halle hinauf. Ich habe Glück und erwische die Rolltreppe in die Haupthalle und bin durch Zufall auch am selben Gleis angekommen, an dem normalerweise der Nachtzug nach Zürich abfahren sollte. „Sollte“, weil er bis zum Fahrplanwechsel nicht ab Hamburg-Altona fährt sondern nur ab Hamburg-Harburg. Das entnehme ich einem der vielen Anschläge mit Fahrplanänderungen, die an den Schautafeln auf dem Bahnsteig hängen. Ich bin gespannt, ob die DB es bis 12.12. schaffen wird, die beiden kollidierten Güterzüge bei Leiferde zu bergen und die Strecke zu reparieren.
Oben in der Halle fallen mir gleich eine WC-Anlage und Schließfächer auf. Das merke ich mir für die Rückfahrt. Die Schließfächer schaue ich mir genauer an, vor allem die Größe und die Preise. Es werden Münzen gebraucht, die ich im Moment nicht habe. Es hängt zwar ein Geldwechselautomat an der Wand, aber er ist außer Betrieb.
Finanzministerin: Wir müssen jetzt einfach die Münzen für das kleine Schließfach sammeln und gesondert lagern, damit wir sie nicht mehr ausgeben.
Irre: Kleines Schließfach. Da muss ich ja den Rucksack ausräumen, damit er reinpasst. Das glaubst du doch selbst nicht, dass ich das mache.
Gipsy: Immer mit der Ruhe, ihr zwei. Der Preisunterschied zwischen dem kleinen Fach, für das wir den Rucksack ausräumen müssen, und dem großen, in das er ganz bequem reinpasst, ist doch nur ein halber Donut. Das können wir uns doch wirklich leisten.
Dann gehen wir weiter. Ich habe irgendwie keine Lust, meinen Rucksack in ein Schließfach zu stecken und mir Hamburg anzusehen. Ich will mich eigentlich nur irgendwo hinsetzen und auf den Nachmittag warten. Trotzdem üben die Übersichtpläne des HVV eine magische Anziehungskraft auf mich aus. Und ich versuche herauszufinden, wie ich am Besten zum Cruise Terminal in Altona kommen werde. Bus 111 und Fähre 62 halten direkt davor bzw. daneben. Ich laufe noch etwas ziellos in der Halle umher und entdecke eine weitere Schließfachanlage mit funktionierendem Geldwechsel. Das merke ich mir ebenfalls.
Ich besorge mir noch eine HVV Fahrkarte und fahre mit der S-Bahn zu den Landungsbrücken. Nehmen wir jetzt den Bus oder die Fähre? Die Irre will natürlich „Schiffchen fahren“. Aber zwischen uns und dem Wasser ist noch ein riesiges, fast unüberwindliches Hindernis, das nur durch ganz viele Treppenstufen überwunden werden kann. Zumindest sieht es von der Stelle, an der ich gerade stehe, so aus. Und auf Treppenstufen habe ich gerade wirklich keine Lust und auch keine Kraft. Erst muss ich den Schlafmangel irgend überwinden. Also nehmen wir den Bus 111, aus dem wir schon von Weitem das Hinterteil der Amera erspähen können. Aber es dauert noch ein paar Haltestellen, bis wir am Terminal angekommen sind.
Zuerst lungere ich noch etwas außerhalb des Terminals herum; es ist ja erst kurz nach 9 Uhr. Aber dann frage ich eine Angestellte von Phoenix, ob neue Gäste auch im Terminal bis zum Nachmittag warten dürfen. Die Angestellte bejaht dies und zeigt auf eine Stuhlreihe, die entlang der Fenster zum Parkplatz steht. Dort suche ich mir einen Stuhl und beobachte erst einmal, wie die Kofferreihen gefüllt und wieder geleert werden, bis alle abgestiegenen Gäste das Terminal verlassen haben. So vergeht die Zeit durch Beobachten und Träumen fast wie im Flug.
Irgend wann kehren meine Kräfte wieder zurück und der Irren wird es langweilig.
Irre: Ich will jetzt sehen, wo die große Treppe hinführt, die wir vorher an der Seite gesehen haben. Vielleicht gibt es dort einen Aussichtspunkt, von dem aus ich das Schiff besser sehen kann als durch diese hohe Absperrung und die Fenster auf der anderen Seite.
Also steigen wir die hohe Treppe hinauf. Ich mag dabei gar nicht an den Rückweg denken und wie sich meine Höhenangst anstellen wird, wenn es da mehrere Stockwerke einfach runter geht. Oben angekommen sehen wir die Amera endlich in voller Größe. Ein riesiger Kran hievt einen blauen Käfig auf das Schiff.
Irre: Die beladen gerade das Schiff. Ich will mich als Ladung verkleiden und auf´s Schiff schmuggeln.
Aber ich sehe keine Möglichkeit, ungesehen in diesen blauen Käfig zu kommen. Und ich habe keine Lust, lange herumzulaufen und ein Schlupfloch zu suchen. Die Irre muss also noch ein paar Stunden warten.
Dort oben wird es langsam kalt und ich gehe die Treppe wieder hinunter – und meine Höhenangst schlägt unbarmherzig zu. Also taste ich mich ganz langsam, Stufe für Stufe, ja nicht zur Straße schauen sondern nur auf die Füße, und auf keinen Fall das Geländer loslassen, wieder zum sicheren Boden hinab und gehe wieder in die warme Halle.
Diese Unternehmung hat auch andere Lebensgeister geweckt und ich bekomme Hunger. Jetzt ist die Frage: Fischbrötchen oder das übrige Salamibrötchen vom Frühstück? Die Irre will ein Fischbrötchen, aber es muss zu ihrem Stuhl geliefert werden. Zu den Landungsbrücken fahren oder einen Imbiss in der Nähe suchen, will sie nicht. Also müssen wir uns mit dem Salamibrötchen begnügen. Und Wasser haben wir auch noch. So gestärkt beobachten wir wieder das Treiben und verteidigen unseren Stuhl gegen neu angekommene Interessenten.